19

Franks große Liebe hieß mit vollem Namen Sandy Elizabeth Roth. Alias Jennifer O‘Carroll. Alias Pavlova Martinez. Alias Marie Trudeau. Die Suche führte schließlich zu einer Doppelhaushälfte am Rand von Ballybunion. Grace machte große Augen. »Sie war die ganze Zeit in Kerry?« Gerade erst hatte sie sich von dem Grand Prix letzte Woche erholt, und nun das!

Frank antwortete nicht. Er hockte auf der Sofakante und starrte auf seinen scheußlichen, braunen Teppichboden hinunter.

»Gewissermaßen«, erklärte Julia an seiner Stelle.

»Und - haben sie sie verhaftet?«

»Ja - heute Morgen, sagte Sergeant Daly«, berichtete Julia vertraulich leise. »Und darum dachte ich, ich rufe Sie an, damit Sie herkommen.«

Grace sah ihr an, dass sie die Aufregung genoss - ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie alle Insiderinformationen hatte und Grace nicht. Wie sie Franks Arm tätschelte! »Wie heißt sie denn wirklich?«, erkundigte sich Grace. Franks Kiefermuskeln verkrampften sich, während er weiter vor sich hin starrte.

»Frank«, sagte sie sanft. »Sie haben keinen Grund, sich zu schämen.«

»Ach nein?«

»Natürlich nicht«, bekräftigte Grace. »Sie haben absolut nichts falsch gemacht - abgesehen davon, dass Sie vielleicht zu gutgläubig waren. Sie hat sie ausgenutzt! Sich Ihre Liebe zunutze gemacht und Ihr Geld gestohlen!«

»Nur die Ruhe«, mahnte Julia.

Grace nahm sich zurück. »Ich meine ja nur - wenn sich hier jemand schämen muss, dann ist das sie!«

»Er«, flüsterte Frank. »Wie bitte?«

»Mr Liam Hughes. Sandy ist ein Mann.«

Einen Moment lang herrschte atemlose Stille.

Dann sagte Grace: »Das ... das hätte ich mir denken können!«

Julia schaute sie mit schief gelegtem Kopf und hochgezogenen Brauen an. Oh, seien Sie still!, formte Grace ihre Antwort lautlos mit den Lippen.

»Wenn man sich das vorstellt«, stöhnte Frank. »Ich war die ganze Zeit mit einem Mann verlobt!«

Julia stand auf. »Ich finde, das schreit nach einem Drink.«

Sie verschwand in Richtung Küche.

Grace legte den Arm um ihren gebrochenen Exnachbarn.

»Oh, Frank!«

»Und der Kerl hat mich noch dazu hintergangen!«, fügte er mit brüchiger Stimme hinzu.

Mit viel Geduld entlockte sie ihm schließlich den traurigen Sachverhalt. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung unterhielt Liam Hughes unter seinen verschiedenen Namen mindestens elf Internet-Romanzen. Er wählte seine Opfer sorgfältig aus, und sein Vorgehen war immer gleich: Nach einigen Monaten der Werbung ermutigte er den Kandidaten zu einem Heiratsantrag, den er dann auch annahm, worauf er sein Opfer dazu überredete, im Hinblick auf den Umzug in die Vereinigten Staaten sein Haus zu verkaufen, und wenn der Verkauf dann spruchreif war, wurde die arme Braut plötzlich schwer krank und brauchte in den meisten Fällen dringend eine Organtransplantation. Die beidseitige Nierentransplantation war seine Lieblingsvariante, aber er hatte auch schon eine Herztransplantation als unbedingt erforderlich angegeben, eine Herz-Lungen-Transplantation und einmal sogar eine Gehirntransplantation. »Die Polizei meint, diese Story sei vielleicht ein Hilfeschrei gewesen«, sagte Frank, »denn es könne doch wohl kaum jemand so dumm gewesen sein, sie ihm abzukaufen.«

»Nun ...«

»Ich wäre bestimmt so dumm gewesen.«

»Sie sind nicht dumm, Frank. Wir wollen alle an das Gute im Menschen glauben.«

»Aber Sie waren doch gleich misstrauisch.«

»Ja, schon - aber das bin ich von Natur aus ...«

»Dass sie nie ans Telefon ging ... dass ihre Schwester ausgerechnet eine Ehekrise hatte, als ich rüberfliegen wollte... mein Gott, wenn ich an all die Lügen denke, die sie geschrieben hat! Die er geschrieben hat. Er! Ich kriege das einfach nicht in meinen Kopf. Der ganze Schmus über die behinderten Kinder und die Mitgliedschaft im Kirchenchor und den Wunsch, nur noch Hausfrau und Mutter zu sein, sobald wir ein Kind hätten ... all die Scheiße über Schicksal und Bestimmung und das Gesülze, wie glücklich wir sein müssten, dass wir uns gefunden haben.« Er schöpfte Atem. »Und das schrieb er in Kerry und lachte sich dabei scheckig über mich!«

»Ich glaube nicht, dass er über Sie gelacht hat.«

»Aber ich kann mir gut vorstellen, wie lustig es für ihn war, einen armen, alten Trottel am anderen Ende des Landes wie einen dieser Aufziehaffen für sich hüpfen zu lassen! Wie er jedes Mal in schallendes Gelächter ausbrach, wenn er eine E-Mail von mir las!«

»Hören Sie auf, sich zu quälen, Frank.«

»Wissen Sie was? Ich glaube, die Polizei liegt falsch. Ich glaube, es ging ihm gar nicht um das Geld. Ich glaube, es machte ihm einfach Spaß, Männer mittleren Alters dazu zu bringen, sich in ein Perry‘s-Hot-Dog-Girl zu verlieben!«

»Was?«

»Ach ja - das habe ich Ihnen noch gar nicht gezeigt.« Er zog ein zusammengefaltetes Din-A4-Blatt aus der Tasche, reichte es Grace herüber und wandte den Blick ab. Es war eine Kopie des Fotos, das Sandy ihm von dem angeblichen Tagesausflug mit behinderten Kindern an den Strand geschickt hatte. Nur hing auf dieser Kopie kein Geschirrtuch über der Hand, die einen großen, appetitlichen Hot Dog hielt. Und darunter stand ein Werbetext: Ich liebe Perry‘s Hot Dogs!

»Oh, Frank«, seufzte Grace, als sie den Hot Dog betrachtete. Aber es hätte auch schlimmer sein können ... »Das Mädchen da ist ein obskures Model namens Carol Sowieso. Liam Hughes benutzte für seine Zwecke farbige Anzeigen aus amerikanischen Zeitschriften, weil er dachte, dass die Chance, dass ich sie entdecken würde, verschwindend gering wäre. Er hatte Recht!« Frank stieß ein bitteres Lachen aus.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Grace.

»Nichts.«

»Aber das Geld, das sie - er - Ihnen gestohlen hat, die CDs...«

»Weg.«

»Das kann doch nicht das Ende sein! Was wird denn die Polizei unternehmen?«

»Sie können gar nichts unternehmen, wenn ich keine Anzeige erstatte.«

»Und das wollen Sie nicht?«

»Soll ich vielleicht vor irgendeinem Gericht wildfremden Menschen meine Liebesbriefe vorlesen? Zu erklären versuchen, wie ich glauben konnte, dass eine Frau wie Sandy wenn sie denn existiert hätte - sich in einen Mann wie mich verliebt hatte? Nein, danke. Ich habe mich schon genug zum Narren gemacht.«

Er zerriss das Foto von Sandy am Strand und warf es in den Papierkorb. Lange herrschte tiefe Stille. Schließlich sagte Grace: »Wenigstens haben Sie Ihr Haus noch.«

»Ja - wenigstens habe ich mein Haus noch«, wiederholte er tapfer. »Wenigstens war noch nichts unterschrieben, als ich die Wahrheit herausfand.«

»Und Ihren Wagen.«

»An meinem Wagen war er nie interessiert.«

»Ich weiß - ich sage es nur. Und Ihre Freunde - mich und Julia und Nick.« Sie hatte ihn damit trösten wollen, doch die kurze Aufzählung klang eher deprimierend. Sie musste etwas anderes finden. »Und Ihre Gesundheit.«

»Ach, hören Sie auf, Grace!«

»Okay. Tut mir Leid.«

Er seufzte und sagte: »Tief drinnen wusste ich, dass es nicht wahr sein konnte. Sagen Sie es nicht, Grace - lassen Sie uns ehrlich sein: Ich bin ein Mann in mittleren Jahren mit einem seltsamen Job und ohne Freunde, der keine Frau mehr aus der Nähe gesehen hat, seit... ach, egal. Die Sandys dieser Welt interessieren sich nicht für Männer wie mich - außer, es springt etwas für sie raus. In diesem Fall zwei Nieren.«

»Ich finde, es sagt viel über Sie aus, dass Sie bereit waren, sie ihr zu finanzieren«, startete Grace einen neuerlichen Aufbauversuch.

»Aber sie waren nur eine Erfindung!«

»Das spielt keine Rolle. Sandy ging mit Bedacht vor, wie Sie wissen: Sie machte sich nur an großzügige Männer heran.«

»Soll das ein Kompliment sein? Und sie ist ein Er.«

»Und Männer, mit denen sie leicht reden konnte. Das musste sie auch, wenn sie bis zu elf E-Mails am Tag schrieb.«

»Sie meinen leichtgläubige Männer.«

»Ich meine, wenn sie Sie nur hätte schröpfen wollen, wären keine elf E-Mails am Tag nötig gewesen.«

»Sie hatte nichts Besseres zu tun.«

»Elf E-Mails! Wenn sie Sie verachtete oder nur als Geldquelle betrachtete, hätte sie sich nicht die Mühe machen müssen, sich so viel Schönes auszudenken. Erinnern Sie sich an die Geschichte mit dem Nachtfalter? Wie sie alle Lampen ausmachte, damit er sich nicht die Flügel verbrannte? Und wie sie diese Flügel beschrieb und Sie daraufhin in Ihren Büchern nachschauten, was für ein Falter es war?«

»Sie beschrieb auch, dass ihre Nieren wie alte Pflaumen verschrumpelt seien«, hielt er dagegen, doch Grace sah ihm an, dass er bewegt war. »Und sie ist ein Er.«

»Na und? Was soll‘s? Sie haben beide geschwindelt.«

»Ich habe nie geschwindelt!«

»Und was ist mit Ihren zweiundachtzig erotischen Erlebnissen?«

»Oh. Stimmt.«

»Aber dass sie gelogen hat, muss nicht heißen, dass sie Sie nicht mochte. Oder sogar liebte - auf ihre Weise.« War das nicht ein wenig überzogen? Grace hielt den Atem an.

»Sie ist ein Er«, sagte Frank nach langem Schweigen, und seine Stimme klang wieder ein wenig kräftiger. »Wie oft muss ich das noch wiederholen, bis Sie es endlich intus haben?«

In diesem Moment kam Julia mit einem Tablett herein, und ihr Timing war so perfekt, dass Grace sicher war, dass sie die ganze Zeit hinter der Tür gewartet hatte. Und sie war froh, dass die beiden einander hatten, Julia und Frank, deren Häuser nur durch eine Straße getrennt waren - denn leben konnte weiß Gott keiner mit einem von ihnen.

»Ich habe ordentlich eingeschenkt«, verkündete Julia. »

Dann gehe ich mal Platz schaffen.« Frank machte sich auf den Weg zur Toilette.

»Sie humpeln ja kaum noch«, bemerkte Grace erfreut, als Julia die Drinks und die Flasche zum Nachschenken auf den Couchtisch stellte.

Julia schaute sie an. »Nun, es ist eine ganze Weile her, dass Sie mich gesehen haben. Aber ich weiß ja, dass Sie mit Ihrem eigenen Leben beschäftigt sind ...« Sie seufzte theatralisch.

»Sie genauso«, gab Grace zurück. »Jedes Mal, wenn ich Sie anrufen will, ist belegt!«

»Wegen des Marsches. Sie machen doch mit, oder?«

»Natürlich.«

»Michael auch - und vielleicht sogar Gillian.« Mit vertraulich gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Es sind ernsthafte Friedensverhandlungen im Gange. Michael ist der Unterhändler.«

»Das ist wunderbar, Julia.«

»Ich habe mich offenbar für eine Menge zu entschuldigen. Schauen Sie nicht so.« Sie trank einen großen Schluck Whiskey und sagte dann: »Ich habe heute mit Martine gesprochen. Adams Verhandlung ist nächste Woche. Er kommt dazu rübergeflogen.«

Bei der Erwähnung seines Namens spannten sich alle Muskeln in Graces Körper an. »Ach ja?« Julia hatte den Blick auf ihr Glas gesenkt. »Martine wollte auch kommen - sie sagt, sich fühlt sich mitverantwortlich, weil er doch zu ihrer Gruppe gehörte -, aber die Leute, für die sie jetzt arbeitet, erlauben es nicht. Sie sagen, sie wollen nicht mit einem Gesetzesbrecher in Verbindung gebracht werden.«

»Aha.« Grace versuchte, sich darüber klar zu werden, was sie empfand.

»Meiner Meinung nach hat er einen Orden verdient. Nicht viele Menschen gehen für ihre Überzeugung auf die Barrikaden, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren!« Julia besann sich. »Aber heutzutage müssen wir die Gesetze respektieren.«

»Ja.«

»Ich dachte nur, Sie würden es vielleicht gern wissen«, fügte Julia hinzu. »Nachdem wir immerhin einen Monat unter demselben Dach gelebt haben.«

»Ja. Danke, Julia.«

Eine Woche später fuhr Grace wieder durch die County Meath.

Eigentlich hatte sie gar nicht herkommen wollen. Sie hatte gemütlich beim Frühstück gesessen und ein volles Programm vor sich gehabt. Naja - eigentlich nur ein Mittagessen mit Natalie. Und plötzlich hatte sie sich gefragt, ob sie es nicht bereuen würde, wenn sie nicht führe. Es gab schon so viel zu bereuen in ihrem Leben, dass sie nicht noch etwas hinzufügen wollte, und so warf sie ihre Pläne kurzerhand über den Haufen und stieg ins Auto.

Natalie hatte es natürlich nicht verstanden. »Warum?«

»Ich weiß auch nicht. Vielleicht, um mich von ihm zu verabschieden.«

»Dann schick ihm eine Postkarte. Du musst das doch nicht persönlich tun.«

»Ich kann es dir nicht erklären, okay? Es ließ mir nur keine Ruhe ... wie ein ... ach, ich weiß nicht, was.«

»Wie eine Eiterbeule?«, bot Natalie als Gleichnis an.

»Himmel, nein! Nichts so Dramatisches.«

»Dann vielleicht Zahnweh.«

»Es ist eigentlich nichts Schmerzhaftes ...«

»Ein lästiger Juckreiz?«

»Genau!« Grace hätte um des lieben Friedens willen jetzt jedem Vergleich zugestimmt.

»Wenn du meine Meinung hören willst: Ich glaube, du machst einen Riesenfehler«, hatte Natalie verkündet.

»Deiner Meinung nach habe ich in letzter Zeit ausschließlich Riesenfehler gemacht.«

»Das ist nicht wahr. Den Haustausch mit diesem Spanier halte ich allerdings wirklich für einen Riesenfehler.«

»Es ist ja noch nichts entschieden. Frank hatte es im Internet entdeckt...«

»Und wir wissen alle, was er da für ein Händchen hat!«

»Ich spiele nur mit dem Gedanken, okay?«

»Es gibt einige Dinge, mit denen man nicht spielt, Grace. Und dazu gehört auch das Wiedersehen mit Adam.«

»Ich wüsste gerne, wie es ihm geht.«

»Wie kommst du überhaupt darauf, dass er dich sehen will?

Du hast ihm den Laufpass gegeben, seine Freundin ist schwanger, und soweit es ihn angeht, bist du Geschichte.«

Das versetzte Grace einen Stich. »Das weißt du doch gar nicht! Vielleicht ist es bei ihm ja auch eine Eiterbeule.«

»Vielleicht hat er so viel Verstand, dass er die Sache auf sich beruhen lässt. Und du sagtest doch, es sei nur ein lästiger Juckreiz.« Mit strenger Miene fragte sie: »Bist du noch verliebt in ihn?«

»Ach, Natalie.«

»Kein bisschen mehr?«

»Nein! Ich war nie in ihn verliebt. Nicht richtig, zumindest.«

»Was du nicht sagst.«

Natalie würde das niemals verstehen, und Grace hatte längst aufgegeben, es ihr erklären zu wollen. »Du fängst doch jetzt nicht etwa an, dich auf junge Burschen einzuschießen, oder, Grace?«, hatte Natalie geendet. »Ich meine, nachdem du nicht mehr mit Ewan zusammen bist.«

»Ich weiß nicht, auf wen - oder was - ich mich einschießen werde. Es kommt darauf an, was mein Interesse weckt.«

»Ich sage das nur, weil du dich damit nicht beliebt machen würdest. Viele unserer Freunde haben Söhne im Teenageralter.«

»Adam war kein Teenager! Und du wolltest ebenfalls einen Jungen, wenn ich mich recht erinnere!«

»Oh! Ich war schwanger. Da sprachen die Hormone aus mir. Lass dir ja nicht einfallen, das Paul gegenüber zu erwähnen, hörst du!« Dann hatte sie das Gespräch schnell beendet - angeblich, weil Paul junior sein Fläschchen kriegen musste.

Als sie einen Wegweiser nach Trim sah, wurde sie von einem seltsamen Gefühl erfasst: Vorfreude oder etwas in der Art. Wie albern! Sie hatte jetzt ein ganz neues Leben. Na ja - sie bastelte noch daran. Es kam ihr vor wie das Zusammensetzen eines komplizierten Spielzeugs, bei dem man, wenn es schließlich fertig war, allerdings manchmal feststellte, dass das Ergebnis angesichts der Mühe, die man hineingesteckt hatte, enttäuschte. Wie auch immer - es war den Versuch wert.

Und plötzlich fragte Grace sich, ob Natalie vielleicht Recht hatte. Was für einen Sinn hätte es, alles wieder aufzurühren? Ein emotionales Durcheinander anzurichten wegen einer Geschichte, die aus und vorbei war. Aber genau da lag der Hase im Pfeffer: Sie war nicht aus und vorbei!

Als sie Trim erreichte, begann es zu regnen. Als sie vor dem Gericht anhielt, goss es in Strömen. Mit viel Winden und Drehen kämpfte sie sich hinter dem Steuer in ihren Regenmantel, griff sich ihren altersschwachen schwarzen Schirm und stieg aus.

Je näher sie dem Eingang kam, umso nervöser wurde sie. Eine Frau in ihrem Alter strebte demselben Ziel entgegen. Grace nickte ihr zu. »Ein schrecklicher Tag!«

»Meiner ist wegen Hehlerei dran«, berichtete die Frau ihr ungefragt. »Und Ihrer?«

»Nun, er ist genau genommen nicht mein ... wir waren ... wegen Ruhestörung und Zerstörung fremden Eigentums.«

»Hat er ein Pub zerlegt? Ein Schaufenster eingeschmissen?«

»Es geht um ein Mikrofon und zwei Verstärker.«

Die Frau überlegte kurz und erklärte dann: »Dann kommt er mit einer Geldstrafe davon.«

»Glauben Sie?«, fragte Grace hoffnungsvoll.

»Vielleicht brummen sie ihm auch noch ein paar Stunden Sozialdienst auf.«

»Das könnte problematisch werden. Er ist aus Tasmanien.«

»Das ist ja noch besser!«

»Ach ja?«

»Richter Murphy nimmt Ausländer nicht so hart ran. Kopf hoch, Schätzchen.« Sie tätschelte Graces Arm und verschwand in dem ehrwürdigen Gebäude.

Grace blieb unschlüssig stehen. Was wäre, wenn er auf der Anklagebank säße, wenn sie hereinplatzte? (Müsste er wegen zwei kaputter Verstärker überhaupt auf der Anklagebank sitzen? Sie wusste es nicht.) Was wäre, wenn ihr Anblick ihn derart aus der Fassung brächte, dass er »Schuldig!« hervorstieße, obwohl er das Gegenteil hatte sagen wollen? Was wäre, wenn sie bei seinem Anblick derart von Gefühlen oder, noch schlimmer, Leidenschaft - überwältigt würde, dass sie sich auf ihn stürzte und anfinge, ihm die Kleider vom Leibb zu reißen? Oder sich selbst?

Nein - sie glaubte nicht, dass sie das tun würde. Sie war überzeugt, dass sie genügend Abstand zu diesem Abschnitt ihres Lebens - zu ihm - gewonnen hatte, um keine Dummheit zu machen. Trotzdem wäre es besser, draußen zu warten, entschied sie. Auf diese Weise würde ihre Begegnung entspannter verlaufen. Sie würde ihn beim Herauskommen abfangen, und dann könnten sie auf dem Bürgersteig ein paar unverbindliche Worte wechseln wie zwei flüchtige Bekannte, die nach einer kurzen Unterhaltung ihres jeweiligen Weges gingen. Ja - das wäre genau in ihrem Sinn. Das Problem war, dass es unvermindert heftig regnete. Noch dazu kam der Regen in einem solchen Winkel, dass er Grace von den Knien abwärts durchweichte. Und der Wind machte mit ihren Haaren, was er wollte - und das war ganz und gar nicht in ihrem Sinn.

Als sei das noch nicht genug, weigerte sich jetzt der Schirm, offen zu bleiben, und fiel immer wieder über ihrem Kopf in sich zusammen. »Mist!« Das Wort wurde ihren Gefühlen in diesem Moment zwar nicht annähernd gerecht, doch es war besser als nichts - und auf jeden Fall besser, als auf der Treppe des Gerichtsgebäudes so deftig zu fluchen, wie sie es gern getan hätte.

Das Pub auf der anderen Straßenseite hieß passenderweise The Crooked Penny. Grace straffte ihre Schultern und lief los. Sie riss die Tür auf und schüttelte sich, endlich im Trockenen, ohne auf die neugierigen Blicke der männlichen Frühschoppengäste zu achten, wie ein nasses Huhn. Hoffentlich lief ihre Wimperntusche nicht über ihre Wangen! Sie steuerte auf den Tresen zu.

Der Barmann griff bereits nach der Kaffeekanne. Ärgerlich über diese Voreingenommenheit setzte sie sich auf einen der Hocker und bestellte laut und vernehmlich: »Einen Gin Tonic, bitte.« Etwas leiser setzte sie hinzu: »Und eine Packung von den Speckchips da.« Sie mampfte und nippte genüsslich vor sich hin und hoffte, dass es bald zu regnen aufhören würde, als sie aus dem Augenwinkel einen Mann im Straßenanzug auf sich zukommen sah. Also wirklich! Eine junge Mutter konnte an einem Dienstagvormittag keinen Drink in einer Kneipe nehmen, ohne dass sich irgendein Kerl an sie heranmachte! Es war noch ein weiter Weg zur echten Gleichberechtigung, dachte sie düster.

Sie starrte hochmütig vor sich hin und überlegte sich eine zündende Abfuhr. Sie könnte sagen, dass sie an einem Samstagabend schon Hübscheres aus einem Gully habe kriechen sehen. Sie könnte sich auch lautstark über den schlechten Geruch beschweren. (Das war Natalies Lieblingsversion - altmodisch, aber wirkungsvoll, sagte sie. Allerdings war es viele Jahre her, dass sie jemanden damit in die Flucht hatte schlagen müssen.) Einige von Graces jüngeren Kolleginnen hatten richtig gemeine Sachen drauf, die auf die Größe des Genitals und seinen Geruch anspielten, und Grace versuchte, sich daran zu erinnern. O ja ... »Grace?«

Der Mann im Straßenanzug war Adam. Jede verbale Attacke auf das männliche Geschlecht war plötzlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

»Adam?«, sagte sie mit erstickter Stimme.

Kein Wunder, dass sie ihn nicht gleich erkannt hatte: Zusätzlich zu dem schlecht sitzenden Anzug, den er über einem weißen Hemd mit viel zu weitem Kragen trug, war er glatt rasiert und ziemlich blass. Statt seiner vertrauten Wanderstiefel trug er schwarze Lederschuhe, die so blank geputzt waren, dass Grace ihr erschrockenes Gesicht darin sehen konnte.

»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«, fragte sie bestürzt.

Sie waren mit Gel nach hinten gekämmt - und kurz.

»Es ging nicht anders«, sagte er, und Grace glaubte einen gequälten Unterton in seiner Stimme zu hören. Was in aller Welt konnte ihm zugestoßen sein? Der ehemalige Freigeist sah aus wie ein Vertreter für Doppelverglasungen!

Plötzlich begriff Grace. Natürlich! Amandas Schwangerschaft! Ihre Familie hatte sie verstoßen, kaltherzig in die Welt hinausgejagt, und er war gezwungen worden, seine Ideale gegen einen Job einzutauschen, mit dem er seine kleine Familie ernähren konnte. Wahrscheinlich war er Vertreter für Doppelverglasungen. »Ach, Adam!« Mitleid schnürte ihr die Kehle zu. Sie rechnete fast damit, dass er im nächsten Moment einen Hochglanzprospekt aus der Tasche ziehen würde.

Er schaute sie mit einem merkwürdigen Ausdruck an. »Sie wachsen ja wieder, Grace.«

»Wie bitte?«

»Meine Haare. Ich habe sie wegen Richter Murphy schneiden lassen. Er hat nämlich nichts übrig für langmähnige Kerle, habe ich mir sagen lassen.«

Grace kam sich richtig mies vor. Wie hatte sie ihn nur so falsch einschätzen können? »All das ist... für die Verhandlung?«, fragte sie mit einer seine Erscheinung umfassenden Geste.

»Natürlich. Der Anzug, das Hemd, die Krawatte - alles geborgt.«

»Aber du ...«

»Die Schuhe gehören meinem Bruder.« Wieder schaute er sie so merkwürdig an. »Du hast doch nicht erwartet, dass ich in Jeans vor Gericht erscheinen würde, oder?«

»Nein, selbstverständlich nicht«, murmelte sie. Wenn er wüsste, dass sie ihn verdächtigt hatte, mit doppelt verglasten PVC-Fenstern und Terrassenschiebetüren hausieren zu gehen! Um ihre ehrabschneiderische Überlegung wieder gutzumachen, sagte sie: »Richter Murphy hat eine Schwäche für Ausländer.«

»Meinst du?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ich habe es von jemandem erfahren, der sich auskennt«, berichtete sie. »Als ich vorhin drüben beim Gerichtsgebäude war. Ich bin nämlich deinetwegen hier - um dir Glück zu wünschen.«

»Danke, Grace«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln und trommelte nervös mit den Fingern auf den Tresen. »Ich hoffe nur, dass ich keine Gefängnisstrafe kriege. Ich kann unmöglich ins Gefängnis gehen - nicht jetzt, wo ... ach, überhaupt.«

»Ich weiß«, sagte sie, obwohl das nicht stimmte. Meinte er Amanda und das Baby? Oder die nächste Demonstration? Sie hätte ihn gern gefragt, wagte es jedoch nicht. So vertraut waren sie nicht mehr miteinander. Die Atmosphäre zwischen ihnen war überhaupt viel angespannter, als sie erwartet hatte. Verzweifelt suchte sie nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. Lieber Gott - was sagte man zu einem jungen Mann, den man einen Monat lang gebumst hatte? Sie war gerade so weit, sich unter irgendeinem Vorwand verabschieden zu wollen, als Adam sagte: »Stört es dich, wenn ich mich setze?«

»Ah ... nein, gar nicht.«

Er ließ sich auf dem Barhocker neben ihr nieder. »Diese Schuhe sind mir nämlich zu klein, und sie drücken höllisch!«

Sie schauten beide auf die Schuhe hinunter. Abgesehen davon, dass sie die falsche Größe hatten, sah das Leder auch noch extrem hart und steif aus. »Zieh sie doch einfach aus«, schlug Grace vor, die Erfahrung mit hunderten von Paaren unbequemer Schuhe hatte.

»In einem Pub?«

»Warum nicht? Es guckt doch keiner.«

Und das stimmte. Die männlichen Frühschopper hatten registriert, dass sie nicht mehr allein war, und das Interesse verloren.

Adam streifte verstohlen die Schuhe ab, und augenblicklich fiel die Anspannung von ihm ab, wurde er wieder er selbst, als sei er tief in seinem Inneren ein Naturwesen, das jedem Versuch der Mode oder des Rechtssystems, es zu zähmen, widerstand.

Auch Grace entspannte sich. Sie schauten einander eine Weile schweigend an, und dann sagte Adam: »Danke, dass du gekommen bist. Es ist schön, dich zu sehen.«

»Gleichfalls.«

»Wie geht es den Jungs?«

»Großartig.«

»Und Jamies ... du weißt schon?«

»Die sind fast weg. Gott sei Dank. Aber er trägt immer noch extraweite Sweatshirts. Und wie geht es dir?«

Er grinste halbherzig. »Du meinst, abgesehen davon, dass ich in einer halben Stunde vor Gericht erscheinen muss?«

»Das wird bestimmt kein Drama«, bemühte Grace sich, ihn zu beruhigen. »Hast du noch Kontakt zu Martine?«

Er schnaubte leise. »Sie ruft mich hin und wieder an. Es langweilt sie tödlich, den ganzen Tag an einem Angeberschreibtisch zu sitzen. Sich an das Establishment zu verkaufen, hat ihr nicht gebracht, was sie sich erhoffte.« Radikal wie eh und je. Und er hatte Amanda noch nicht erwähnt. Eine neue Theorie begann in Graces Kopf Gestalt anzunehmen, und es war keine besonders schmeichelhafte: Hatte Adam vielleicht entschieden, dass eine so frühe Vaterschaft ein Klotz an seinem Revoluzzerbein wäre? Hatte er der unglücklichen Amanda gesagt, sie solle die Fliege machen, er müsse die Welt retten?

»Warum siehst du mich so an?«, fragte Adam.

»Wie denn?«

»Als hätte ich dir etwas angetan. Dabei hast du mich in die Wüste geschickt, wenn ich mich recht erinnere.«

Sein Ton drückte weder Groll noch Kummer aus, und sie stellte fest, dass sie eher gekränkt war als erleichtert. Dann amüsierte sie sich über ihre Eitelkeit.

»Ja, so war es wohl«, erwiderte sie.

Adam spielte mit einem Bierdeckel. »Und wie geht es Ewan?«

»Ziemlich gut. Glaube ich zumindest.«

Er legte den Bierdeckel aus der Hand und wandte sich ihr zu.

»Ewan und ich haben uns getrennt.«

»Was?«

»In aller Freundschaft, wie das heißt. Im Moment klambüsern wir noch die Scheidungsmodalitäten aus. Es war übrigens meine Idee.« Sie setzte sich gerade hin, warf die Haare über den knöchellangen Strickcardigan zurück (sie hatte beim Stricken irgendwie kein Ende finden können) und fuhr fort: »Und ich studiere wieder - ich mache Modedesign. Das erste Semester habe ich als Beste des Kurses abgeschlossen. Und ich schreibe einen Science-Fiction-Roman. Na ja - ich habe erst am Freitag angefangen, aber es sind immerhin schon fünf Seiten, und Natalie ist begeistert. Und den nächsten Sommer verbringe ich wahrscheinlich in Spanien, wenn das mit dem Haustausch klappt.« Sie wollte ihm eigentlich auch noch erzählen, dass sie mehr für Computers for Schools gesammelt hatte als alle anderen Mütter, doch dann erschien ihr das zu prahlerisch. Adam betrachtete sie mit der vertrauten Mischung aus Zuneigung und Belustigung.

»Lachst du mich aus?«, fragte sie. Und wenn schon - es würde ihr nichts ausmachen.

»Absolut nicht. Ich dachte nur gerade, dass ich das nicht toppen kann.«

»Weil du noch so jung bist«, sagte sie liebenswürdig. »Du kommst auch noch dahin.«

Ihr Geplänkel fand ein abruptes Ende, als die Tür der Damentoilette aufging und Amanda erschien. »Grace!«, quietschte sie freudig, eilte auf sie zu und schlug Adam spielerisch auf den Arm. »Du hast kein Wort gesagt, dass sie heute kommen würde.«

»Ich wusste es ja gar nicht«, verteidigte er sich.

»Es hat sich erst in letzter Minute ergeben«, erklärte Grace.

Jede weitere Spekulation bezüglich Amandas Rolle in Adams Leben erübrigte sich, als diese zärtlich den Arm um ihn legte und ihren Bauch tätschelte, der sich, nicht größer als eine Honigmelone, unter einem bunten, gesmokten Hippiehemd abzeichnete.

»Ich verbringe die meiste Zeit auf dem Klo«, vertraute sie Grace an. »Das Baby liegt auf meiner Blase, wissen Sie. Fühlen Sie mal!«

Sie nahm Graces Hand. Der Bauch fühlte sich auch so hart an wie eine Honigmelone.

»Jetzt habe ich euch miteinander bekannt gemacht«, kicherte sie, und Grace verspürte den altvertrauten Drang, ihr eine schallende Ohrfeige zu versetzen.

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie stattdessen und zog ihre Hand weg. »Ich freue mich für euch.«

»Wir freuen uns auch«, konstatierte Adam in nüchternem Ton.

»Na ja - inzwischen«, ergänzte Amanda. »Wir brauchten schon eine Weile, um uns an den Gedanken zu gewöhnen«, erklärte sie Grace.

»Das verstehe ich gut«, antwortete Grace. »Ich weiß noch, wie mir zumute war, als ich die Zwillinge erwartete. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Plötzlich ist alles anders, man selbst ist anders, man wird Mutter und macht sich Sorgen, weil man das Gefühl hat, nicht die geringste Ahnung zu haben.«

»Genau!«, rief Amanda. »Ich wusste, Sie würden mich verstehen, Grace.«

»Wir haben uns alle möglichen Bücher gekauft«, warf Adam ein. »Wir werden das auf jeden Fall hinkriegen.«

»Natürlich werden wir das«, sagte Amanda. »Es ist wahrscheinlich keine so gute Idee, nächsten Monat in Chile zu demonstrieren. Was ist, wenn dabei die Fruchtblase platzt?« Sie wandte sich wieder Grace zu. »Er denkt, ich kann das Kind in irgendeinem Buschkrankenhaus zur Welt bringen.«

»Möchtest du lieber in einer Suite in dem Krankenhaus entbinden, bei dem dein Vater im Vorstand sitzt?«, schoss Adam zurück.

Amanda seufzte. »Er hat es nur angeboten. Wir müssen es nicht annehmen.«

»Das werden wir auch nicht!«, erklärte Adam mit plötzlich stahlhartem Blick. »Kein Kind von mir wird mit einem silbernen Löffel im Mund geboren!«

Amanda schaute Grace verzweifelt an. »Es geht doch nicht um silberne Löffel. Daddy ist nur gekränkt, weil wir seine Hilfe ablehnen.«

Grace stieß einen diplomatischen, undefinierbaren Laut aus und verfolgte die Kabbelei von einem Logenplatz in ihrem Kopf aus. Und plötzlich erkannte sie, wie gut die beiden zusammenpassten. Adam brauchte jemanden, der ihn von Zeit zu Zeit auf den Boden zurückholte, und Amanda war genau die Richtige dafür. Obwohl auch sie Ideale und Träume hatte. Grace trank den Gin Tonic aus und schaute auf ihre Uhr. Wenn sie sich beeilte, könnte sie doch noch mit Natalie zu Mittag essen. Und heute Nachmittag fand in der Hochschule eine Vorlesung über historische Kostüme statt, die sie sich gern anhören würde.

Plötzlich konnte sie es kaum erwarten, das Pub zu verlassen und weiter an ihrem neuen Leben zu basteln. Sie erkannte, dass die Vorfreude, die sie den ganzen Morgen erfüllt hatte, nicht an Adam geknüpft war. Oder an sonst jemanden. Sie hatte einzig und allein mit ihr selbst zu tun.

Amanda und Adam stritten noch immer. »Daddy hat doch Recht, Adam: Wir haben keine Arbeit und keine Wohnung und wissen nicht, wovon wir Windeln für das Baby kaufen sollen, wenn es erst einmal da ist.«

»Ellsworth wird seine Windeln bekommen«, erklärte Adam.

Einen Moment herrschte tiefes Schweigen, und dann fragte Amanda zögernd: »Ellsworth?«

Adam zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich dachte, das wäre ein guter Name für unsern Sohn. Er bedeutet ›Der das Land liebt‹.«

Amandas Boss-Attitüde wandelte sich zu träumerischer Bewunderung. »O Adam! Das ist wunderschön!«

»Ja?« Er schaute Grace an. »Was meinst du?«

Grace dachte, dass das Kind seine Eltern verfluchen würde, wenn es ins Schulalter käme - wie die arme Dusty! -, aber diese Erfahrung müssten sie selbst machen. Grace hatte schon vor einer Weile aufgehört, Ratschläge zu erteilen. »Ich glaube, das geht mich nichts an«, antwortete sie freundlich, glitt von dem Barhocker und griff nach ihrem Schirm.

»Sie dürfen nicht gehen«, protestierte Amanda. »Wir haben uns ja noch gar nicht alles erzählt.«

»Ich weiß - aber ich bin in Eile.« Sie beugte sich vor und tätschelte Amandas Schulter (eine Umarmung wäre übertrieben, fand sie). »Viel Glück mit dem Baby.«

»Danke, Grace. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten, oder, Adam?«

»Erzählt es einfach Martine«, sagte Grace. »Sie wird es mir ausrichten.«

Adam begleitete sie zum Ausgang. »Willst du nicht doch noch auf einen Drink bleiben?«

»Nein. Ich muss zurück.«

»Okay. Ich bin froh, dass du gekommen bist, Grace.«

»Ich auch.«

An der Tür drehte sie sich zu ihm um. Er wirkte plötzlich unbeholfen und kindlich. So hatte sie ihn noch nie erlebt. »Vielleicht können wir uns mal wieder treffen«, meinte er. »Wenn ich wieder nach Irland komme ...«

»Adam.« Sie lächelte ihn voller Zuneigung an. »Verabschieden wir uns einfach, ja?«

»In Ordnung.« Er streckte ihr die Hand hin. »Mach‘s gut, Grace.«

»Ach, Adam.« Sie schob seine Hand beiseite, beugte sich vor und küsste ihn herzlich auf die Wange. Dann drehte sie sich um und verließ das Pub. Draußen goss es noch immer. Sie hob ihren Schirm.

»Mist!«

Sie versuchte es im Guten, doch er bockte. Beim nächsten Versuch war sie nicht mehr so nett. Er öffnete sich zur Hälfte, dann brachen zwei Streben und bohrten sich brutal durch die schwarze Kunstseide. Sie hielt sich die Ruine trotzdem über den Kopf und hastete zu ihrem Wagen. Anfangs wich sie den Pfützen aus, doch schließlich gab sie es auf und begann von einer zur anderen zu springen. In der letzten blieb sie stehen, streckte den kaputten Schirm hoch in die Luft und drehte eine kleine Pirouette.

--- Ende ---